Heute eine halbe Stunde länger, morgen eine ganze, und niemand schreibt die zusätzliche Zeit auf – das darf nicht sein. Im vergangenen Jahr machten die Deutschen knapp 2,2 Milliarden Überstunden, davon rund die Hälfte unbezahlt. Die Arbeitgeber hätten sich so rund 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche gewirtschaftet, kritisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund. Das höchste EU-Gericht zieht nun ein Schlussstrich: Unternehmen müssen die Arbeitszeiten der Mitarbeiter ab sofort systematisch dokumentieren. Heißt das nun künftig arbeiten nach Stechuhr-Prinzip?
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zeigte sich nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) mehr als erfreut: „Das Gericht schiebt der Flatrate-Arbeit einen Riegel vor – richtig so“, kommentierte Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund das Urteil. Denn die Anzahl unbezahlter Überstunden bewege sich in Deutschland seit Jahren auf einem inakzeptabel hohen Niveau. Das komme „einem Lohn- und Zeitdiebstahl gleich“, sagte Buntenbach.
Die Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank war Auslöser des Verfahrens. Ihr Ziel: Der Arbeitgeber sollte dazu verpflichtet werden, die täglich geleisteten Stunden der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und so die vorgegebenen Arbeitszeiten einzuhalten. Die Richter am EuGH gaben der spanischen Gewerkschaft mit ihrem Urteil nun Recht. Ihre Begründung: Jeder Arbeitnehmer habe ein Grundrecht auf eine begrenzte Höchstarbeitszeit sowie wöchentliche Ruhezeiten. Um die tägliche Arbeitszeit messen zu können und somit die geleisteten Stunden, ihre zeitliche Verteilung sowie Überstunden verlässlich zu ermitteln, bräuchte es aber ein verlässliches System. Denn bisweilen sei es für Arbeitnehmer schwierig oder sogar unmöglich ohne eine korrekte Zeiterfassung, ihre Rechte durchzusetzen, so die Richter weiter in ihrem Urteil.
Nun folgt der schwierige Part: Mit dem Erlassen des Urteils ist der Gesetzgeber ab sofort gefordert, das EU-Urteil in nationales Recht umzusetzen. Arbeitgeber sind verpflichtet, die gesamte Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer systematisch und korrekt zu erfassen. Das gilt nicht nur für Spanien oder Deutschland, sondern für alle EU-Staaten, so das Urteil der EU-Richter in Luxemburg. Ihre Begründung scheint logisch: Nur so kann man zuverlässig überprüfen, ob Arbeitszeiten überschritten werden und nur so können die im EU-Recht zugesicherten Arbeitnehmerrechte geschützt werden.
Doch da beginnt auch schon das Problem – das Urteil könnte sich auch negativ auf den Arbeitsalltag in Deutschland auswirken. Denn längst nicht in allen Branchen werden Arbeitszeiten systematisch erfasst. Wie oft hört man von Beschäftigten, dass sie über die geregelten Zeiten hinaus und unentgeltlich ihrer Arbeit nachkommen. Die Betroffenen geben oft an, dass Arbeit, die getan werden muss, aber nicht in der vorgegebenen Zeit erledigt werden kann, nachgearbeitet wird – im Stillen. Mit dem neuen Urteil müssen Systeme zur korrekten Arbeitszeiterfassung eingerichtet werden, die so etwas künftig verhindern sollen.
Während die Gewerkschaften mehr als erfreut auf das EuGH-Urteil reagierten, befürchten Arbeitgeber hingegen mehr Bürokratie, die jetzt auch auf kleinere Firmen und Betriebe zukommen kann – je nachdem, wie das Urteil in Deutschland umgesetzt werden soll. Ist das die Rückkehr in die Zeit, in der nur noch die sekundengenaue Stechuhr gilt? Was wird dann aus der gerade erst gewonnen, so vielerorts und beidseitig geforderten Flexibilität? Wie wird künftig das Homeoffice geregelt werden? Was passiert mit den Mini-Jobs oder auch Teilzeit-Arbeitnehmern, die zwischen Beruf und Familie hin und her pendeln und zum Teil nach Bedarf, mal mehr und mal weniger ihre Stunden abarbeiten? Auf alle diese Fragen müssen und sollten schnellsten Antworten gefunden werden.
Das sollte machbar sein, denn neu ist die Forderung nach einem genauen Zeiterfassungssystem ja nicht: In Bayern machen sich Gewerkschaften seit Jahren für eine genauere Arbeitszeiterfassung stark. Außerdem müssen in Deutschland schon jetzt laut Gesetz Überstunden erfasst werden, dafür muss aber die reguläre Arbeitszeit bekannt sein. Und wenn eh schon Überstunden notiert werden, ist die nun geforderte Erfassung der regulären Arbeitszeit eigentlich ein nur kleiner Fortschritt. Die Gewerkschaften sind der Auffassung, dass sich nur mit einer lückenlosen Zeiterfassung kontrollieren lasse, ob der Mindestlohn in voller Höhe gezahlt wird. Denn einige Arbeitgeber umgehen die Lohnuntergrenze gerne dadurch, dass sie Arbeitnehmer länger arbeiten lassen, als auf dem Papier steht. Laut Gesetz gilt aber für die dem Mindestlohn unterliegenden Branchen die Aufzeichnungspflicht bereits heute.
Mal von einigen Spezialgesetzen abgesehen, wie zum Beispiel dem Mindestlohngesetz, muss in Deutschland nur die Arbeitszeit erfasst werden, die über acht Stunden am Tag hinausgeht. Bisher klappte das hier zu Lande ganz gut – die sogenannte Vertrauensarbeitszeit ließ die Stechuhrenmentalität fast schon der Vergangenheit angehören. In vielen Berufsbildern mit Gleitzeitregelung wird das in solcher Form nicht mehr möglich sein, von den nicht im Einzelnen erfassten Überstunden ganz zu Schweigen. Eine kommende Bürokratie-Welle bleibt deshalb zu befürchten. Arbeitsrechtsexperten wie die Bruchsaler Anwaltskanzlei Panzalovic können da bei Rechtsfragen rund um das neue Gesetz und die damit verbundenen Änderungen behilflich sein.
Für alle Arbeitnehmer wird es durch die nun per Gesetz geforderte Dokumentationspflicht künftig also deutlich leichter werden, die geleisteten Überstunden geltend zu machen – das zumindest versprechen sich die EU-Richter von ihrem Urteil.
Das Urteil dürfe jedoch keine Nachteile für Arbeitnehmer mit sich bringen, die schon heute flexibel arbeiten, mahnt hingegen der Arbeitgeberverband BDA. Der klassische Acht-Stunden-Tag in Deutschland existiere oft nur noch auf dem Papier. Arbeitgeber könnten ihre Beschäftigten auch künftig noch verpflichten, die von ihnen geleistete Arbeit selbst aufzuzeichnen und so von vorneherein zusätzlicher Bürokratie einen Riegel vorzuschieben.
„Viele Arbeitnehmer wollen flexibler arbeiten und fordern das aktiv ein. Die systematische Erfassung von Arbeitszeiten kann unzählige Arbeitnehmer und Arbeitgeber ins Unrecht setzen“, äußerte sich auch Bitkom-Präsident Achim Berg besorgt zum EuGH-Urteil.
Das neue Gesetz macht also auf ein grundlegendes Problem aufmerksam: Bevor die Vorteile des EU-Urteils greifen können, muss zunächst das Arbeitsrecht in Deutschland modernisiert und in das digitale Zeitalter überführt werden.
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